6. Werkstatt, 28. April 2014

Hinaus aus der Werkstatt, hieß es heute, und auf zu Stein + Lehmann! Begleitet von Frau Pittke und der früheren Kunstlehrerin Frau Schulz fuhren wir mit Bus und S-Bahn mitten hinein in den leibhaftigen Prozess der Buchherstellung. Begrüßt wurden wir in der Firma in Berlin-Adlershof von einem Senior des Unternehmens, von Herrn Stein selbst. Geführt von Frau Luther verfolgten wir den Weg des Papiers von der Warenannahme bis zum gebundenen, eingeschweißten Hardcover-Buch an der Warenausgabe.

Der erste Eindruck war schiere Überwältigung! Welche gewaltigen Mengen an Papier hier zu Büchern und Broschüren verarbeitet werden! Auf unüberschaubarer Fläche waren Paletten mit Druckbögen verteilt, die darauf warteten, geschnitten und gefalzt zu werden. In dieser Halle bei Stein + Lehmann lag wohl mehr Papier als die Bibliothek Schulzendorf in ihren Beständen hat. Und (fast) alles Papier lag dort im Format A0 also ca. 84 x 119 cm – als sogenannter Vierfachbogen, so groß wie Euro-Paletten (80 x 120 cm).

In dieser Form kommt das bedruckte Papier aus der Druckerei. In vergangenen Jahrhunderten kaufte man die … nun ja, die Texte in dieser Form, um sie dann selbst bei einem Buchbinder binden zu lassen. Daher die parademäßige Gleichförmigkeit der Buchrücken in alten Bibliotheken.

Das war tatsächlich ein Aha-Erlebnis für die Kinder, dass nicht jede Buchseite einzeln gedruckt wird (so wie man es zu Hause im Drucker macht), sondern dass große Papierbögen derart bedruckt sind, dass nach dem Falzen (dem Zusammenfalten) der Bögen auf das Endformat mehrere Seiten in der richtigen Reihenfolge liegen.

Hier löste sich im Vorübergehen das Rätsel, warum meine Bücher mit 144 bzw. 152 Seiten je aus einem Vielfachen von 8 Seiten bestehen. Den Unterschied macht je ein Druckbogen aus, auf dem genau 8 spätere Buchseiten gedruckt sind. Ich bin schon gespannt, ob die „Goldgören“ es in diesem Herbst vielleicht auf 160 Seiten bringen?

Die gefalzten Bögen werden dann zusammengetragen, also geschichtet – ganz oben liegt der Falzbogen mit den Seiten 1 – 8, darunter der mit den Seiten 9 – 16, dann 17 – 24 usw. Diese Stapel werden dann in der Fadenheftungsmaschine in atemberaubender Geschwindigkeit zu sogenannten Fadenheften gebunden. Von fern sahen wir auch eine Klebelinie für die Leimbindung. An jeder Maschine wird mehrfach die Übereinstimmung von Mustervorgabe und Produktionsergebnis überprüft.

An einer neuen Buchfertigungslinie sahen wir dann die Herstellung von Hardcover-Büchern. Bei diesen Büchern wird um den Buchblock (das sind die Seiten des Buches), ein fester Einband geschlagen – genannt die Buchdecke, bestehend aus den Buchdeckeln und dem Buchrücken. Dieser Rücken kann rund oder gerade gestaltet sein. Auch das Kapitalband und das Zeichenband bzw. Lesebändchen können an derselben Maschine eingefügt werden. Das Kapitalband schließt die Lücke zwischen Buchrücken und Buchblock. Das Lesebändchen bzw. Zeichenband dient dazu, nach mehreren Jahren festzustellen, wo im Buch man beim letzen Anlauf stecken geblieben ist…

Am Ende des beeindruckenden Maschinenparcours sahen wir eine Mitarbeiterin von Hand Vorsatzpapiere einkleben. Die Kinder konnten so ungefähr ermessen, welche zeitraubende und kunstfertige Tätigkeit das Buchbinden in Zeiten der Handarbeit gewesen ist. Und welche hochtechnisierte und effiziente Angelegenheit es heute ist. Anschließend nahm sich Frau Luther die Zeit, in einem ruhigen Besprechungszimmer all die Fragen zu beantworten, die in der Geschäftigkeit der Werkhalle zu kurz gekommen waren.

Als ich ihr zum Abschied ein Exemplar von „Australien, ich komme!“ übergab, konnten die Kinder sehr fachmännisch das (rote) Vorsatz- und Nachsatzpapier unterscheiden, das (schwarze) Kapitalband zeigen, den runden Rücken erkennen und die solide Fadenheftung würdigen. Zum Abschied umriss Herr Stein für uns die Geschichte der Buchbinderei, die kurz nach dem Krieg in einem zweiten Hinterhof in Berlin-Kreuzberg begann und sich zuletzt den Herausforderungen des Internet-Zeitalters stellen musste.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal Dank sagen der Firma Stein + Lehmann in Berlin und namentlich Frau Luther für ihre engagierte und interessante Führung und Herrn Stein dafür, dass er uns in Räderwerk der Buchherstellung hat schauen lassen.

Denn, natürlich es geht beim Lesen um zuerst und hauptsächlich Inhalte. Ein gute Geschichte bleibt eine gute Geschichte, egal ob als Hardcover oder Softcover oder auf einem elektronischen Lesegerät – gute Literatur kriegt auch ein Kindle nicht kaputt. Aber gerade weil der Anteil elektronischer Texte ständig zunimmt, gibt es auch eine Rückbesinnung auf die Kunst der Buchgestaltung. Und wie diese Kunst heute ausgeübt wird, davon haben sich die Kinder ein Bild machen können.

Beim nächsten Mal, in zwei Wochen, geht es ins Theater an der Parkaue. Du liebe Güte, soviel Exkurs und so wenig Textarbeit! Aber sind es nicht gerade Exkurse und Umwege, die uns dem Ziel näher bringen?

Ich glaube daran!

Thilo Reffert
28. April 2014